EINE SPRACHE, DIE KEINEN ÜBERSETZER BRAUCHT

Im Zeitalter der Digitalisierung vollzieht sich ein Umbruch: Füllfederhalter und Pinsel müssen nach mehreren tausend Jahren Bildschirmen und Tastaturen weichen. Dadurch können ganz neue Sprachen entstehen.

Wie kann man sich zum Beispiel auf Arabisch oder Chinesisch unterhalten, wenn man nur eine Computertastatur mit lateinischem Alphabet hat? China und die arabischen Länder haben passende Antworten gefunden – phonetische Schriften.


Der Künstler Xu Bing geht einen Schritt weiter. Sein Roman „Book from the Ground“ enthält Satzzeichen, aber keinen Text. Anstelle von Wörtern gibt es Piktogramme, Logos, illustrative Zeichen und Emoticons, die allesamt realen, weltweit verwendeten Symbolen entnommen sind. Der Künstler hat diese über einen Zeitraum von sieben Jahren zusammengetragen und daraus eine universelle ideografische Sprache entwickelt, die theoretisch für jeden verständlich ist, der sich mit dem modernen Leben beschäftigt. 

 

 

Die Geschichte

 

Das Buch beschreibt 24 Stunden im Leben eines gewöhnlichen Büroangestellten, Mr. Black, von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr am nächsten Tag. Der Tag von Mr. Black beginnt mit Vogelgezwitscher und seinem Wecker am Bett; es geht weiter mit Zähneputzen, Kaffeekochen, Fernsehen und Katze füttern. Er pendelt mit der U-Bahn zu seinem Arbeitsplatz, arbeitet in seinem Büro, überlegt, was er zu Mittag essen könnte, stellt sich in die Schlange vor der Toilette, träumt, schickt Blumen, plaudert nach der Arbeit, geht nach Hause, erschlägt eine Mücke, geht ins Bett, schläft und steht am nächsten Morgen wieder auf. Und alles beginnt von vorn.

 

Sein Tag wird mit akribischen und intimen Details erzählt und liest sich wie ein postmodernes, posttextuelles Buch. Doch Xu Bings Erzählung mit ihrer Bildsprache könnte ohne Übersetzung und Erklärung überall erscheinen. Entstanden ist ein Werk, das jede und jeder ohne Übersetzung oder Erklärung lesen kann.

 

Wenn Sie die Herausforderung lieben, greifen Sie zu. Oder Sie geben es Ihren Kindern und lassen Sie sich die Geschichte erzählen.

 

ISBN: 978-0-262-53622-6

 

Preis: ca. 14 Euro

 

© Bild: MIT Press, Text: planet text

 

 

 

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Eine Rezension von Helen Sumpter, ArtReview / Meta Media, London / Hong Kong 2014 (Auszug)

 

Book from the Ground: From Point to Point von Xu Bing und The Book About Xu Bing's Book from the Ground, herausgegeben von Mathieu Borysevicz

 

 

Auf einer Ebene hat Xu sein Ziel erreicht: Der Leser muss sich nicht allzu sehr anstrengen, um den Tagesablauf der Hauptfigur zu entschlüsseln. Mr. Black entscheidet, welche Schuhe er anzieht (Logos von Lacoste, Adidas, Nike) und was er zu Mittag isst (McDonald's-Bild, Bild eines dampfenden Steaks/einer Schüssel Nudeln/Sushi). Er ist zunehmend gestresst (eine Reihe von Emoticons mit besorgten Gesichtern, die immer mehr Schweißtropfen absondern), weil er sich auf eine Arbeitspräsentation vorbereitet. Auch der Humor kommt nicht zu kurz, einige Passagen sind leicht skurril und bizarr, z.B. wenn Mr. Black sich auf der Toilette anstrengt. Aber vielleicht spiegelt sich darin nur die Universalität der Toilettensymbole wider.

 

Das Begleitbuch „The Book About Xu Bing's Book from the Ground“ (in Deutschland leider nicht erhältlich) dokumentiert das umfangreiche Projekt, das im Rahmen einer Ausstellung präsentiert wurde. Dort konnte auch eine vom Künstler entwickelte App genutzt werden, die chinesische und englische Texte in Piktogramme und Symbole übersetzt. Essays und ein Interview mit dem Künstler stellen das Buch in einen Kontext zu Xus früheren Arbeiten sowie zu historischen und neueren piktografischen Sprachen. Denn auch die chinesische Sprache hat piktografische Wurzeln. 

 

In Bezug auf Xus frühere Arbeiten ist Book from the Ground ein Gegenstück zu einem seiner bekanntesten Werke, Book from the Sky (1987-91), einem vierjährigen Projekt, in dem er 4.000 „falsche“ chinesische Schriftzeichen schuf, die er von Hand in Holzblöcke schnitt und in Bücher und auf Schriftrollen druckte. 

 

In diesem Buch schuf er eine Sprache, die für niemanden verständlich war. Wenn man die Auswirkungen einer globalen Sprache für eine zunehmend globale Welt betrachtet, ist Xus Projekt von großer Bedeutung. Betrachtet man es jedoch im Kontext von Sprache und Literatur, werden die Argumente problematischer, insbesondere wenn Mathieu Borysevicz in seinem einleitenden Essay From Point to Point mit Ulysses von James Joyce (1922) vergleicht.

 

Als übergreifende Erzählung mögen beide Bücher die Geschichte eines Tages im Leben eines Mannes sein, die in 24 Stunden erzählt wird. Aber die literarischen Möglichkeiten einer bestehenden Sprache auszuloten, wie Joyce es tat, ist nicht dasselbe wie der Versuch, eine Geschichte durch vereinfachte Zeichen und Symbole zu erzählen. 

 

Der Künstler selbst ist der erste, der die Grenzen seines Projekts anerkennt, indem er in seinem Interview in The Book About... erklärt, dass der Wunsch, „einen Traum zu verfolgen, dass alle Menschen ohne Schwierigkeiten frei kommunizieren können, ein zu großer Traum ist, um ihn zu verwirklichen.“ 

Die Grenzen von From Point to Point als Literatur werden besonders deutlich, wenn man die englische Übersetzung liest, die in The Book About... zu lesen ist. Hier ein Auszug: Herr Black steht auf, schlurft ins Badezimmer und sitzt lange auf der Toilette. "En...äh...ugh...en...", so sehr er sich auch bemüht, es kommt nichts heraus. "Was ist denn da unten los?" Er grübelt.

 

Vergleichen Sie das mit ein paar Zeilen aus Ulysses. „Stephen schloss die Augen und hörte, wie seine Stiefel knisterndes Strandgut und Muscheln zertraten. Du gehst da durch, wie auch immer. Das tue ich, einen Schritt nach dem anderen. Eine sehr kurze Zeitspanne in einem sehr kurzen Zeitraum.“ Versuchen Sie, das in Piktogrammen und Smileys auszudrücken. 

 

planet text
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